▶︎ Nicht der beschauliche Rhythmus der Liturgie, sondern der stürmische Gang der Geschichte hat den Monat Oktober in Verbindung zum Rosenkranz gebracht. Als am 7. Oktober 1571 die christliche Allianz in der Seeschlacht von Lepanto über der türkischen Flotte siegte, wurde die Christenheit vor der Gefahr einer alles fortreißenden Springflut bewahrt. Papst Pius V hatte zum Gebet des Rosenkranzes aufgefordert und setzte den Tag des Sieges als „Rosenkranzfest“ ein. Im jetzigen liturgischen Kalender heißt das Fest „Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz“, damit es deutlich wird, dass man nicht einen Gegenstand, sondern die heilige Jungfrau selbst verehrt. Auch die Litanei zur Ehre der Gottesmutter wurde mit der Anrufung ergänzt: „Auxilium christianorum“, „Hilfe der Christen“.
Geschichte und Heilsgeschichte
▶︎ Jenes einzelne Ereignis der Geschichte war in heilsgeschichtlichen Sicht die erneute Bestätigung des abgründigen Wortes aus dem Buch Genesis (3,15): „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, / zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. /Er trifft dich am Kopf / und du triffst ihn an der Ferse.“ Maria zerbricht die Macht aller widerchristlichen Gewalten.
▶︎ Auch zu unserer Zeit hat es Situationen gegeben, in denen machtpolitische Zusammenhänge aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive her an die Rolle Mariens als Beschützerin erinnern.
Der im viergeteilten Österreich gegründete Rosenkranz-Sühnekreuzzug mobilisierte, bevor er sich in die ganze Welt ausbreitete, Abertausende Wiener, die vor dem Anblick der patrouillierenden Soldaten der vier Besatzungsmächte regelmäßig über die Ring-Straße betend zogen. Österreich ist das einzige Land, das friedlich und ohne Gewalt aus der sowjetischen Machtsphäre nach dem Zweiten Weltkrieg freikam. Die sowjetischen Besatzungstruppen zogen 1955 ab und Österreich bekam ihr Staatsvertrag.
▶︎ Auch die Ereignisse des Jahres 1989 lassen sich im heilsgeschichtlichen Licht, das aus dem Buch Genesis strahlt, einordnen: „Es fiele einem schwer, nicht hervorzuheben, dass das marianische Jahr den Ereignissen des Jahres 1989 unmittelbar vorausgegangen ist. Es sind Geschehnisse, die uns wegen ihres Umfanges und besonders wegen ihres raschen Ablaufes in Erstaunen versetzen müssen.“ (Papst Johannes Paul II, Tertio millenio adveniente, 11.11.1994, Nr. 27)
Gebet in Zeiten der Not
▶︎ Not herrschte in Europa als das Rosenkranzgebet im 15. Jahrhundert seine jetzige Gestalt erhielt. „Der schwarze Tod“ – die Pest – hatte über Europa gewütet, drei Könige kämpften um die deutsche Kaiserkrone, zeitweilig stritten drei Päpste um die geistliche Gewalt in einer durch das Große Abendländische Schisma gespaltenen Kirche.
▶︎ Der junge Mann mit dem vornehmen Namen Dominikus von Preußen, der eines Tages die Trierer Kartause aufsuchte, spürte weniger diese allgemeinen Nöte als die Seelennot dessen, der mit seinem bisherigen Leben nicht klar kommt. Auch nach seinem Eintritt in den Orden wähnte er sich wieder in einer Sackgasse. Der Prior des Klosters, Adolf von Essen, befreite ihn vom Druck eines – wie Dominikus meinte – fruchtlosen Betens, indem er ihm vorschlug, es wie die einfachen Leute und die Laienmönche zu tun. Da sie als des Lesens nicht kundig keine Psalmen wie die gelehrten Mönche beten konnten, grüßten sie die Gottesmutter immer wieder mit dem wiederholten Ave Maria.
▶︎ Adolf riet dem Novizen das Gleiche zu tun, dabei aber Szenen aus dem Leben Jesu an sich vorüberziehen zu lassen. Dominikus tat es so und schrieb sich kurze Merksätze auf, um das Miteinander von Beten und Betrachten zu erleichtern. Damit war das wesentliche Merkmal des Rosenkranzes entstanden, wie wir ihn heute kennen.
Musik der Worte
▶︎ Die tragenden Pfeiler des Rosenkranzes sind die Urgebete des Glaubens: Das Vaterunser, das mit Worten Jesu Zugang zum Vater eröffnet; das „Gegrüßet seist du Maria“, das sehr menschlich – Gruß und Bitte ist; und das „Ehre sei...“, das auf das Ziel jeden Lebens hinweist.
Ein bloßer Zuhörer mag sich an der starren Struktur und der monotonen Wiederholung stören. Aber ein Beter kann die immer gleichen Worte jedes Mal ein wenig anders betonen, wie die verschiedenen Worte in einer immer wiederkehrenden Melodie: Mutter Gottes...! Bitte für uns Sünder..! Jetzt...! Während die Finger am Instrument - der Perlenkette - gleiten, klingen die Worte jeweils anders. Einmal schafft die Wiederholung ein sich weitendes Echo, das immer tiefer ins Innere einsinkt, ein anderes Mal hilft sie bei einer Szene aus dem Leben Jesu verweilen, als möchte man sie mit den Augen Mariens sehen. Andere Male vergegenwärtigt man sich während des Sprechens der Worte ein bestimmtes persönliche Anliegen: Gebet für den Freund oder die Freundin, Fürbitte für Opfer von Hunger und Elend in der Welt oder für einen Kranken in der Nachbarschaft, Dank für eine Wohltat...
▶︎ Man kann den Rosenkranz überall beten: in der Kirche oder auf der Straße, im Auto oder auf dem Fahrrad, allein, in der Familie oder mit einem Freund, im Wartezimmer oder Schlange stehend vor einem Schalter.
▶︎ Natürlich kann man dabei den Worten, die man spricht, nicht die volle Aufmerksamkeit schenken; dennoch entsteht durch sie ein vom Alltagsbetrieb gesonderter Raum, ähnlich wohltuend wie die Hintergrundmusik bei einem Gespräch mit Freunden.
▶︎ Mancher theoretische Vorbehalt gegen den Rosenkranz schwindet, sobald man versucht, schlicht das Beten zu probieren.
▶︎ Es gibt Einwände, die in verborgener Eitelkeit oder im unerkannten Stolz wurzeln: Entweder bete ich ihn makellos, perfekt oder gar nicht.
▶︎ Die Erfahrung eines trotz guten Willens unvollkommen verrichteten Betens drängt allmählich den Ehrgeiz zurück, mit einer vollkommenen Leistung - frei von Zerstreuungen und in absoluter Konzentration - aufzuwarten. Dann geht es einem auf, dass Beten nicht Mitteilung von Neuigkeiten an Gott ist, sondern ein Verweilen bei ihm und das Geständnis, dass wir hilfsbedürftig sind und ihn brauchen. Schließlich setzt sich die demütige Einsicht durch, dass es eigentlich darum geht, Gott den guten Willen, die erbärmliche Schwäche und ein wenig Zeit darzubringen. Es heißt, der selige Papst Johannes XXIII. habe den „schlechtgebeteten Rosenkranz“ gelegentlich mit der Bemerkung verteidigt: „Noch schlechter ist der Rosenkranz, den man nicht betet.“
▶︎ Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass beim Versuch, das Warum des Rosenkranzes zu begründen und Einwände zu entkräften, immer wieder Vergleiche mit der Musik auftauchen; denn auch sie gehört zu den Realitäten des Lebens, deren Geheimnis sich der rein rationellen wie der zweckhaften Betrachtung entzieht. Auch bei Beten des Rosenkranzes begegnet uns etwas Geheimnisvolles, in das wir halb eintreten und doch mit dem Gefühl bleiben, erst an der Schwelle zu stehen.